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Wider die Ökonomisierung des Lebens - Für eine neue geschlechtersensible Wirtschaftsethik, für ein Wirtschaften mit Maß

 

Festrede von Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

 

 

Sehr geehrte Damen, liebe Freundinnen,

ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung, ihre Gastrednerin anlässlich der 5. Frauenherbstmahlzeit des Landesfrauenrats Hamburg zu sein. Was ich zur Mahlzeit auftische, ist Kost zum Nachdenken, hoffentlich auch eine für Sie verdauliche.

Mein gesamtes berufliches Leben ist geprägt von der Auseinandersetzung, wie wir weltweit ein Leben in Würde, ein Leben ohne Not und Gewalt möglich machen können. Ein gutes Leben eben, ein Leben in Freiheit. Und für mich ist genauso wichtig:

          Ein Leben ohne Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen;                                                   

          ein Leben in biologischer, kultureller und politischer Vielfalt;

          ein Leben in Solidarität.

        Die normativen Grundlagen sind für mich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und insbesondere Gerechtigkeit, die für mich sehr breit definiert ist. Neben der sozialen, ökologischen und Geschlechtergerechtigkeit geht es für mich auch immer um internationale Gerechtigkeit und um Gerechtigkeit zwischen den Generationen.

        Zwangsläufig befasse ich mich mit den vielen Krisen in der Welt: Mit dem Klimawandel und seinen dramatischen Folgen – vor allem für ärmere Bevölkerungsschichten –, mit den Ursachen von Ungerechtigkeit, von Armut und von Hunger und damit auch mit den weltweiten Ernährungs- und Landwirtschaftspolitiken. Zu jedem dieser Themen könnte ich jetzt lange Vorträge halten. Sie alle sind eng verwoben miteinander. Und sie haben alle ihre Ursachen in dem aus den Fugen geratenen globalen Kapitalismus.

        Die weltweite Finanzkrise, ausgelöst durch den Zusammenbruch von Lehman Brothers und die Bankenkrise, die in die europäische Verschuldungskrise mündete, ist der kräftigste Ausdruck dessen, wie Kapitalverwertungsinteressen unregulierter Finanzmärkte die globale Ökonomie prägen und steuern und Politik erpressen.

        Wir alle wissen, dass die Bewältigung der Bankenkrise die staatlichen Handlungsspielräume für wichtige Investitionen für öffentliche Güter und das Gemeinwohl wie Bildung oder bezahlbare Gesundheit und Pflege für die Zukunft einschränkt. Der Zwang, hohe Wachstumsraten zu erwirtschaften, um die Schulden zurückzuzahlen, kann auch den Druck auf die globalen Ressourcenvorräte verschärfen. Mit der Ausbeutung von Ressourcen lässt sich Geld verdienen. Aber der Klimawandel und die wachsende Ressourcenknappheit schreien nach globaler Begrenzung, Entschleunigung und Schrumpfung.

        Für mich macht es daher wenig Sinn, die Vielfachkrise aus Finanzcrash, Klimawandel, Hunger und Ressourcenverknappung politisch voneinander zu trennen. Sie sind vielmehr eng miteinander verwoben. Ganzheitlichere politische Antworten sind gefragt. Und es ärgert mich regelrecht, wie hier Zusammenhänge von der Politik und den Medien auseinandergerissen werden, anstatt Wechselbeziehungen zu thematisieren. Aber Komplexität ist anstrengend für die Politik, für die Medien und für jede und jeden Einzelnen.

        Allerdings – und das beobachte ich im Positiven – wachsen seit Jahren die Zweifel, das Unbehagen und die Kritik, an unserer Art zu wirtschaften und zu konsumieren. Wachstums- und Konsumkritik sind zurückgekehrt in die öffentliche und politische Arena. Ein Beispiel ist die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages. Auch in der Praxis suchen immer mehr Menschen für sich Wege aus dem Wachstumszwang, des Mehr, Schneller, Höher, Besser – mit konkreten Projekten und Initiativen. Sie holen sich Gemeinschaftgüter und öffentliche Räume zurück. Viele Beispiele aus der Praxis sind im Buch „Commons – Für ein neue Politik jenseits von Markt und Staat", dargestellt.

        Wenn wir die Interessen künftiger Generationen auf der ganzen Welt ernst nehmen, wenn wir humane Gesellschaften wollen, dann brauchen wir eine Wirtschaft, die den Klimawandel und die Ressourcenverknappung in erträglichen Grenzen hält, die den Zusammenhalt der Gesellschaften fördert und dem Allgemeinwohl und nicht speziellen Interessen dient. Die Prämissen der klassischen Ökonomie gehen aber immer noch von wertneutral funktionierenden Marktmechanismen aus, die automatisch das Wohl aller Menschen fördere. Dem ist nicht so, die Mechanismen funktionieren nicht per se werteneutral und im Sinne der Menschenrechte.

        Ich möchte Ihnen das an dem Beispiel der Hungerkrise verdeutlichen: Seit Jahren steigen die Agrarpreise auf den Weltmärkten (kurz unterbrochen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise) kontinuierlich. Und hohe Preise bedeuten höhere Einkommen für die einen, aber Hunger für diejenigen, die sich Nahrung ohnehin kaum kaufen können. Dieser dramatische Preisanstieg für Nahrungsmittel trifft besonders die Armen. Sie müssen einen immer höheren Anteil ihres ohnehin schon sehr geringen Einkommens für Nahrung aufbringen.

        Der Hauptfaktor für Hunger ist Armut. Klar ist aber auch: Grundsätzlich ist genug für alle da! Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, FAO, hielt in einem Bericht aus dem Jahre 2002 fest, dass die landwirtschaftliche Produktion 17% mehr Kalorien pro Person und Tag herstellt, als noch vor 30 Jahren – obwohl die Bevölkerung um 70% angestiegen ist. Die FAO kommt zu dem Schluss, dass die Landwirtschaft genügend produziert, um die Menschheit zu ernähren. Das heute ca. 850 Mio. Menschen Hunger leiden, ist ein Widerspruch und eng mit der Frage der Verteilung und des Zugangs verbunden. Das Beispiel zeigt auch: Der Markt arbeitet, jedoch nicht zu Gunsten der Hungernden. Der Markt ist kein win-win Spiel für alle. Schutz der Schwachen oder der Natur, teilen und umverteilen sind politische Kategorien, mit denen dem Markt Grenzen und soziale Regeln gesetzt werden müssen.

        Allerorten wird Marktversagen konstatiert. So der frühere Weltbankökonom Nicolas Stern, der den Klimawandel als dramatisches globales Marktversagen bezeichnet hat. Die von der ökonomischen Theorie nach wie vor postulierte Wert-Freiheit der Ökonomie ist zum Glück mehr denn je unter Beschuss. Wenn Wirtschaften vom Wortsinn her mit dem Schaffen von Werten zu tun hat, so stellt sich doch angesichts der Vielfachkrisen erst Recht die Frage danach, welche Werte denn da geschaffen werden – und für wen.

        Wir leben in einer endlichen Welt von Ressourcen. Und wenn wir die Atmosphäre nicht weiter mit Kohlendioxidemissionen belasten können, wenn wir gefährlichen Klimawandel vermeiden wollen, wenn heute weltweit mehr als zwei Milliarden Menschen gar nichts haben- dann müssen wir doch erst Recht fragen: Wie können wir Wohlstand und Wohlbefinden für alle schaffen und dabei in den planetarischen Grenzen bleiben?

        Es ist eben nicht nur der Finanzmarkt, der unser Interesse nach Umsteuern, Regulierung oder ganz anderen Modellen des Wirtschaftens und Lebens wecken sollte. Es ist ein Trugbild, dass wir mit der Regulierung der Finanzmärkte die tiefgreifenden Probleme des globalisierten Kapitalismus los wären. So wie es ein Trugbild ist, dass wir selbst bei 100 prozentigem Umstieg auf erneuerbare Energien die ökologische Krise, die Ressourcenknappheit, den Verlust der biologischen Vielfalt hinter uns gelassen hätten. Ganz davon abgesehen müssen wir innerhalb unserer Gesellschaften und global den Wohlstand und Gemeingüter fairer teilen, wenn wir in Zukunft in einer Welt ohne Not und Gewalt leben wollen.

        Wie kann eine andere Wirtschaftsethik oder ein Wohlstand nach Maß aussehen, die sozial, ökologisch und geschlechtersensibel ist? Bevor ich darauf am Schluss eingehe, will ich gleich beispielhaft zeigen, wie sehr die Dominanz des Ökonomischen unseren Alltag, unser Denken und Handeln durchdringt.

        Wir brauchen – davon bin ich mit vielen Mitstreiterinnen tief überzeugt – eine Einhegung des Ökonomischen und eine neue Ethik des Wirtschaftens. Dafür müssen wir die Dominanz des Ökonomischen durchleuchten und begreifen, wie sie Gesellschaften und Individuen längst durchzieht.

        Für mich sind die Sinndimension – also für wessen Bedürfnisse produzieren wir was –, und die Gerechtigkeitsdimension – wer hat Teil am Wohlstand, wer hat welche Rechte innerhalb der Gesellschaften sowie international und zwischen den Geschlechtern – zentrale Kategorien.

        Effizienz, Produktivität und Konkurrenz sind dagegen die wichtigsten Bausteine klassischer Ökonomie. Privatisierung, technische Innovationen und Finanzialisierung sind wichtige Wege in der globalisierten Marktlogik. Finanzialisierung bedeutet nichts anderes, als aus allem möglichen ein Produkt, eine handelbare Ware zu machen. Bis hin zu ihrer Börsenfähigkeit – mit allen Spekulationsmöglichkeiten, wie beispielsweise mit Nahrungsmitteln.

        Diese Prinzipien werden mehr und mehr auf soziale Dienstleistungen – wie auch auf die Gesundheitsfürsorge –übertragen, und mehr und mehr im Umwelt- und Naturschutz angewendet. Fatal für Patientinnen und Patienten, für zu Pflegende, für die Pflegerin und den Pfleger und für die Umwelt- und Naturressourcen. Es gibt erstaunliche Parallelitäten zwischen der Ökonomisierung von Medizin und Pflege und der Ökonomisierung von Naturressourcen. Ich will das gerne am Beispiel erörtern.

        Mehr denn je werden Pflege und Gesundheitsdienstleistungen der Effizienzlogik untergeordnet. Von der Industrialisierung der Medizin ist die Rede. „Geld oder Leben. Was hat in Krankenhäusern Vorrang – der Profit oder die Patienten?“ fragte die ZEIT im September in einem ausführlichen Dossier und lud zu einer überfälligen Debatte ein.

        Ökonomische Erwägungen dominieren die Praxis in Krankenhäusern, aber auch in Arztpraxen: Krankenhäuser suchen sich oft die lukrativsten Patienten oder Behandlungen aus. „Laut Deutschem Ärzteblatt bekommen mindestens 45 Prozent der leitenden Mediziner Vorgaben, welche Behandlungen und Operationen von ihm erwartet werden – und einen Bonus, wenn sie das Soll erfüllen“, schreibt der Journalist und Autor Werner Bartens in einem Beitrag von Süddeutsche Zeitung Magazin.

        Ich weiß nicht, welches Bonussystem ich schlimmer finde, das für Finanzmarktmanager oder das für Ärzte! So gibt es auch Krankheiten, die in einem optimierten System nicht mehr behandelt werden; Untersuchungen und Therapien werden gemacht, weil sie Geld bringen. Anders sind die überdurchschnittlichen Knieoperationen in Deutschland nicht zu erklären.

        Aus Kostengründen werden Hygiene- und Putzdienste ausgegliedert (Stichwort: Outsourcing). Erst jüngst berichtete dazu das ARD-Magazin Kontraste, wie sehr dabei Hygienevorschriften fallengelassen werden müssen. So gibt es Zeitvorgaben von fünf Minuten pro Patientenzimmer, mit fatalen und nachgewiesenen Folgen für Patientinnen und Patienten, die zum Teil an lebensbedrohlichen Infektionen erkranken. Hygieniker schlagen Alarm.

        Die ökonomisierte Medizin nimmt sich Technik zu Hilfe, wo eigentlich Fürsorge, Zuwendung, Mitgefühl oder Zuhören hingehören. „Kann ein Patient im Krankenhaus nicht mehr genug trinken, bekommt er einen Tropf. Isst er zu wenig oder zu langsam, wird eine Magensonde gelegt. Nässte er ein, wird ein Dauerkatheter gelegt“… „Der Patient steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern wird zum Störfaktor“ – so Werner Bartens weiter. Arbeit am und mit den Menschen – also all das, was wir Sorgearbeit nennen – kann jedoch nicht alleine mit Produktivität und Effizienz gemessen und beschrieben werden.

        Ja, ökonomische Rationalität kann und muss auch von sozialen Dienstleistungen erwartet werden. Heute regiert jedoch fast nur noch der ökonomische Imperativ. Wirtschaftsethisches Handeln in der Medizin und in der Pflege wird immer auch nach dem Kriterium der Effizienz handeln müssen, aber nur auf untergeordneter Ebene.

        Gesundheitspolitik muss sich eben jener Sinndimension stellen, die ich oben bereits erwähnte und die stellt den Menschen und dessen Bedürfnisse in den Mittelpunkt.

        Und hier bin ich bei einem zweiten Aspekt, der relevant ist für eine neue und vor allem geschlechtersensible Wirtschaftsethik: Was sind uns Sorge, Pflege, die gesamte Reproduktion eigentlich wirklich „wert“. Und da bin ich neben der Sinndimension auch bei der Gerechtigkeitsdimension.

        Feministische Soziolog_innen und Ökonom_innen kritisieren seit Langem, dass die Marktlogik von Effizienz, Wachstum und Rendite eine strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber den Menschen, dem Sozialen und der Natur bedingt. Sie identifizieren, so die Soziologin Christa Wichterich, als Ausgangspunkt für wirtschaftsethisches Verhalten das ureigenste Prinzip des Wirtschaftens: zu versorgen, Bedürfnisse zu befriedigen, Wohlbefinden zu erzeugen. Was wir jedoch erleben, ist der Verlust der Wertschätzung für diese Aufgaben. Wenn in unseren Gesellschaften etwas schrumpft statt zu wachsen, dann ist es die Wertschätzung für die Daseinsvorsorge, Betreuung, Pflege. Das gilt für den privaten und gesellschaftlichen wie für den bezahlten-dienstleistungsbezogenen Rahmen.

        Wir alle wissen, wie schlecht Betreuungs- und Pflegeberufe bezahlt sind. Sie sind hochgradig feminisiert und prekär bezahlt. Und Sorgearbeit ist wie ehedem an die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung gekoppelt.

        Laut Statistischem Bundesamt ist die Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen extrem:

        • Von 43 wöchentlichen Arbeitsstunden im Jahr 2001/2002 arbeiteten Frauen 31 Stunden unbezahlt und 12 Stunden bezahlt.
        • Bei Männern waren es bei insgesamt 42 Arbeitsstunden 19,5 Wochenstunden, die sie unbezahlt verrichtet haben.

        ·    Frauen stellen das überwältigende Gros der Minijobber und heute wie in Zukunft das Gros der Altersarmen.

        Ich rede hier nicht der Bezahlung von Haus- und Pflegearbeit das Wort. Da wäre ich ja in meiner Argumentationslogik zur Einhegung des Ökonomischen inkonsistent. Ich rede für eine Wirtschaftsethik, die endlich die Sorgeökonomie als Teil der ganzen Ökonomie begreift und anerkennt. Ihre Einbeziehung ins Bruttoinlandsprodukt – wie viele fordern – ist ein guter Schritt, macht sie sichtbarer, das ist aber noch nicht genug: Insgesamt braucht Sorgearbeit eine politische, gesellschaftliche und damit auch finanzielle Aufwertung.

        Dort wo Pflege, Betreuung, Sorgearbeit insgesamt aus der Privatsphäre an staatliche oder private Dienstleister/innen ausgelagert wird, muss sie gut bezahlt werden. Und zwischen den Geschlechtern geht es weiterhin darum, die geschlechtshierarchischen Beziehungen in Richtung Augenhöhe und Gleichstellung zu verändern.

        Auch dafür helfen staatliche Rahmenbedingungen wie die eigenständige steuerliche Veranlagung (wie in Skandinavien, also weg mit dem Ehegattensplitting) und weitere Maßnahmen zur eigenständigen Existenzsicherung wie ein Grundeinkommen für alle. Alles Konzepte, für die es sich lohnt zu streiten und sich politisch zu engagieren.

        Nun zu meinem zweiten Beispiel: Was meine ich, wenn ich von einer neuen Welle der Ökonomisierung der Natur spreche? Wie finden die Logiken von Effizienz und „aus Natur eine Handelsware machen“ ihren Niederschlag in der gegenwärtigen Klima-, Naturschutz- und Umweltpolitik?

        Der Philosoph und Biologe Andres Weber hat es wie folgt auf den Punkt gebracht indem er sagt, dass Ökologie der irdische Haushalt von Energie, Stoffen, Beziehungen und Bedeutungen ist, die die menschengemachte Ökonomie erst ermöglicht. Licht, Sauerstoff, Klima, Boden, Energie (Photosynthese) versorgen auch den Homo oeconomicus der Gegenwart. Natur sei ein gemeinwirtschaftliches Paradigma par excellence. Die Gemeinschaftsgüter – Atmosphäre, Land, Wasser, Meer, biologische Vielfalt – werden seit Jahrhunderten von den Menschen eingehegt. Aktuell haben wir es jedoch mit einer neuen Privatisierungs- und Kommerzialisierungswelle von Natur, Wissen und öffentlichem Raum zu tun.

        Eine der Grundthesen derer, die von Naturkapital reden und Ökosystemdienstleistungen in den Geldkreislauf einbinden wollen, ist: wir verschwenden Natur, weil sie ökonomisch nicht genug wert geschätzt wird. Das sei die Wurzel allen Übels und Ursache dafür, dass wir sie zerstören – eben weil sie nichts kosten. Weil der Wert der Natur ökonomisch unterbewertet sei, muss Natur endlich wie eine Dienstleistung betrachtet und das Naturkapital für die Märkte, inklusive Finanzmärkte, gehoben werden.

        Diese Position wird ausgerechnet vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) propagiert und ist Teil der Green Economy Initiative, die 2008 auf den Weg gebracht wurde. In Rio bei der UN-Konferenz im Juni wurde gar eine „Natural Capital Declaration“ zwischen Banken, Versicherungen, Umwelt­organisationen wie WWF oder Conservation International, parastaatlichen Organisationen, dem UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) und der UNEP-Finance Initiative auf den Weg gebracht.

        Dort wo Wert-Schätzung nicht alleine monetär, sondern politisch zu verstehen ist, macht dieser Ansatz durchaus einen wichtigen Punkt. Der Streit fängt dort an, wo es um neue ökonomische Instrumente und rein marktwirtschaftliche Anreize geht, Ökosysteme, ihre Dienstleistungen und die Biodiversität zu schützen.

        Das bringt viele Akteur/innen im Süden – vor allem in Lateinamerika – auf die Barrikaden. Diese Ökonomisierung der Natur wird als neue Etappe der Privatisierung und Kommerzialisierung von Natur angeprangert. Die Umwandlung von Natur – auch die Kohlenstoff speichernde Humusschicht oder das Blatt am Baum – in Handelsgüter und in Privateigentum, sei eine weitere Ursache dafür, dass vor allem gemeinwirtschaftlich lebende Bevölkerungsgruppen vertrieben und enteignet würden. Es ist ja nicht die fleißige Natur, die für ihre Dienstleistungen bezahlt wird, sondern deren „Besitzer“.

        Effizienz, Privatisierung, Geldwertorientierung für den Schutz der Bio- und Atmosphäre? Auch sage ich: Effizienz sollte allerhöchstens eine untergeordnete Kategorie sein. Ist uns Natur wirklich etwas wert – warum schützen wir sie dann nicht konsequent? Verbieten Holzeinschlag in tropischen und anderen Urwäldern der Erde, verbieten Fischfangflotten, weit über die Reproduktionsrate der Fischbestände zu fischen usw.

        Die Ökonomisierung der Medizin oder der Natur ist Folge von politischen Weichenstellungen, die bewusst erfolgen oder eben ausbleiben!

        Es ist politisches Versagen wie bei den Finanzmärkten, die die Politik durch Deregulierung erst entfesselt und nun die allergrößte Mühe hat, den „Geist“ wieder in die Flasche zurück zu holen.

        Andreas Weber bringt eine besondere Perspektive in die Debatte:

        „Die Biosphäre ist nicht effizient. Warmblüter verbrauchen über 97 Prozent ihrer Energie allein zu Unterhaltung des Körpers. Die Photosynthese erreicht einen lächerlichen Wirkungsgrad von sieben Prozent. Fische, Amphibien und Insekten müssen oft Millionen von Eiern legen, damit ein einziger Nachkomme überlebt. Statt effizient zu sein, ist Natur redundant: Sie macht mögliche Verluste durch unvorstellbare Fülle und atemberaubende Verschwendung wett.“

        Und er führt fort:

        „Noch nie ist nachweislich eine neue Art aus der Konkurrenz um eine Ressource entstanden. Arten werden durch Zufall geboren […]. Erhöhte Konkurrenz allein – etwa um einen begrenzten Nährstoff – bewirkt biologisch Verödung“.

        Wesentliche Kraft für Vielfalt in der Natur ist die Vielfalt der Beziehungen, ist also Kooperation nicht Konkurrenz. Die Gier des Einzelnen (die es wohl immer wieder geben wird) hat nur eine Chance, wenn wir sie lassen, wenn wir nicht kooperieren – sei es in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Gesellschaft.

        Und hier möchte ich gerne schließen: Zur Einhegung des Ökonomischen brauchen wir eine neue und integrative Wirtschaftsethik, die Erwerbsarbeit und Sorgearbeit zusammendenkt, die die Sinndimension (wie wollen wir leben?) mit der Gerechtigkeitsdimension im sozialen wie ökologischen Sinne (auf wessen Kosten leben wir heute und zukünftige Generationen?) in und zwischen Gesellschaften und zwischen den Geschlechtern miteinander verknüpft.

        Wir brauchen ökonomische Abrüstung, ein Wirtschaften mit Maß – das schließt Effizienz, ein kluger Umgang mit Ressourcen und Konsistenz und die Verträglichkeit zwischen Industrie und Natur ein.

        Besser, anders, weniger und gerechter – das sind für mich die Kernelemente für anderes Wirtschaften.

        Kooperation statt endloser Wettbewerb.

        Vielfalt statt Verödung

        Wertschätzung statt Bewertung

        sind für mich die Wege dorthin.

        Daran arbeiten bereits viele Menschen auf der ganzen Welt, das gibt mir Hoffnung inmitten all der Krisen.

         
         
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        Barbara Unmüßig

        Barbara Unmüßig, geboren 1956 in Freiburg i. Breisgau, studierte an der Freien Universität Berlin Politische Wissenschaft. Von 1996 bis 2001 war Barbara Unmüßig Aufsichtsratsvorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung. Seit Mai 2002 leitet sie die Heinrich-Böll-Stiftung. Sie ist verantwortlich für die Strategie und Programmentwicklung für Lateinamerika, Afrika, Asien, Nahost und das „Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie“. Die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit liegen auf den Themen Globalisierung und internationale Klimapolitik, nationale und internationale Geschlechterpolitik sowie Demokratieförderung und Krisenprävention. Im Dezember 2006 wurde sie für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt. Barbara Unmüßig hat zahlreiche Zeitschriften- und Buchbeiträge zu Fragen der internationalen Finanz- und Handelsbeziehungen, der internationalen Umweltpolitik und der Geschlechterpolitik veröffentlicht.